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Alltagsgeschichten ohne Worte

  • Cordula Dieckmann (dpa) /bs

  • Do, 13. Januar 2022
    Literatur & Vorträge

     

Eine Fahrt auf dem Riesenrad war prägend: Zum Tod des Wimmelbuch-Erfinders Ali Mitgutsch.

Ali Mitgutsch mit einem seiner Wimmelbücher  | Foto: Rolf Vennenbernd (dpa)
Ali Mitgutsch mit einem seiner Wimmelbücher Foto: Rolf Vennenbernd (dpa)
Seine Wimmelbücher gehören in jedes Kinderzimmer. Mit ihnen lässt sich seit mehr als einem halben Jahrhundert schon für die ganz Kleinen die Welt entdecken. Ali Mitgutsch, der, wie gemeldet, am Montag im Alter von 86 Jahren gestorben ist, hat die farbenfrohen Panoramen ohne Worte erfunden, auf die man wie aus großer Höhe schaut. Gewimmel von Dingen und Menschen eben. Sie sind ein kaum versiegender Quell für Entdeckungen im – das ist das Tolle – ganz normalen Alltag: auf dem Bauernhof, im Schwimmbad, in den Bergen, in der Stadt, im Zoo. So werden spielerisch und phantasieanregend Sprache und Wissen vermittelt: Denn die Geschichten, die in den Wimmelbüchern stecken, muss jeder, der mit seinem Nachwuchs hineinschaut, schon selbst erzählen.

Wenn die Physiognomie eines Menschen zu dem passt, was er tut: Bei Ali Mitgutsch, dem Mann mit dem verschmitzten Lächeln, dem Schalk in den Augenwinkeln und dem lustigen schneeweißen Bart, konnte man es meinen. Menschen jeden Alters lieben seine Bücher bis heute, auch wenn manches aus der Zeit gefallen zu sein scheint: Bagger, Traktoren, Autos sehen heute anders aus. Doch altmodisch wirken die Wimmelbücher keineswegs: Was zwischen Menschen passiert, hat sich nicht verändert. Bis heute sind wir schadenfroh, boshaft, enttäuscht, neugierig, vergnügt.

Schon als Kind war der am 21. August 1935 in München geborene Ali Mitgutsch ein guter Beobachter, mit feinem Gespür für Stimmungen. Auch sein Talent fürs Zeichnen zeigte sich früh. Doch das Leben war hart: Weltkrieg, Heimatlosigkeit und Not prägten seine Kindheit. Sein geliebter großer Bruder fiel in Russland. Als München bombardiert wurde, floh die Familie aufs Land. Dort waren sie ungeliebte Flüchtlinge. Der schüchterne Alfons litt unter den Demütigungen anderer Kinder. So zog er allein los: "Ich wanderte durch die Auen und den Wald und träumte mir die Abenteuer, die ich in Wirklichkeit nicht erlebt habe, weil ich keine Freunde hatte", erinnert sich der Künstler.

Nach dem Krieg eroberten sich die Kinder die Stadt zurück: Sie spielten zwischen Trümmern und in ausgebombten Kellern, suchten nach Altmetall und lieferten sich Bandenkämpfe. Von solchen Streifzügen kehrte Alfons verdreckt zurück – wie "Ali Baba und die 40 Räuber", erklärte er seinen Spitznamen Ali. Ein prägendes Erlebnis war die Fahrt auf dem Riesenrad auf dem Münchner Jahrmarkt. Was der Junge aus der Gondel sah, faszinierte ihn. "Es waren Bilder mit vielen Details, es passierte so viel gleichzeitig, die Geschichten gingen nicht aus", erinnerte sich der spätere Student der Graphischen Akademie. Das Riesenrad findet sich im ersten Wimmelbuch "Rundherum in meiner Stadt" von 1968. Mehr als 70 Bücher entstanden. Allein in Deutschland wurden mehr als fünf Millionen verkauft.

Ressort: Literatur & Vorträge

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