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München

Von der Schulbank in den Dschihad?

Patrick Guyton
  • Mi, 18. März 2015
    Deutschland

     

In München verschwindet das 16 Jahre alte Mädchen Elif – es wird bei den syrischen IS-Kämpfern vermutet.

Einst trug Elif Ö. lange blonde Haare, zuletzt Kopftuch Foto: privat
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MÜNCHEN. Ihr Bett in der Wohnung der Familie ist leer, der Platz in der Realschule seit zwei Wochen auch. Elif Ö., ein 16 Jahre altes Mädchen aus Neuried bei München, ist weg – vermutlich hat sie sich in Syrien der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angeschlossen.

"Vermisst!" schreiben die Eltern auf Facebook und stellen viele Fotos von ihrer Tochter ins Netz. Sie haben einen Verdacht, der fast zur Gewissheit geworden ist: Elif ist über die Türkei nach Syrien gereist, um sich den Terrorkämpfern des Islamischen Staates (IS) anzuschließen. Am 28. Februar hatte sie sich verabschiedet und gesagt, sie wolle zu Freundinnen nach Landsberg am Lech fahren, feiern und dort übernachten.  Doch sie war nicht in Landsberg. Tags darauf flog sie vielmehr nach Istanbul. Von dort ging es weiter an die türkisch-syrische Grenze.

Elif wuchs in einer modernen türkischen Familie auf, sie hat einen deutschen Pass. Sie hatte eine behütete Kindheit, soweit man das beurteilen kann, zusammen mit beiden Eltern und zwei Geschwistern. Der Wohnort Neuried liegt an der südwestlichen Stadtgrenze zu München. Es ist eine etwas gesichtslose Gemeinde, aber teuer wie überall in diesem Ballungsgebiet und keinesfalls eine problematische Gegend.

Was innerhalb nur eines Jahres passiert ist, wie Elif zu einer Islamistin wurde, zeigen die Fotos deutlich: Sie hatte einst lange, blond gefärbte Haare, ein Zungenpiercing, trug moderne Kleidung. Dann kam das Kopftuch. Und am Ende der schwarze Ganzkörperschleier, der nur noch die Augen frei lässt.

Elifs Vater Atila Ö. ist der Tochter hinterhergefahren, als die Familie anhand von Notizen und Online-Konversationen entdeckte, wie tief sie in die islamistische Ideologie verstrickt ist und welche Pläne sie hatte. Sie will die Frau eines Dschihadisten, eines islamistischen Kämpfers, werden. Wer sich einem Kämpfer anschließt, so die Ideologie, kommt selbst einmal ins Paradies. Atila Ö. ist verzweifelt. "Ich komme gar nicht zurecht, ich komme überhaupt nicht weiter", sagte er am Dienstag am Telefon gegenüber der Badischen Zeitung. Seine Stimme ist brüchig. Bald will er wieder nach München zurückkehren. Aber wohl ohne die Tochter, deren Spur sich an der türkisch-syrischen Grenze verliert.

"Ich denke an Dich, mein Engel", hat die Schwester vor zwei Tagen an Elif geschrieben. "Mir fließen die Tränen, mein Herz tut so weh." Sie fleht sie an, wenigstens eine "klitzekleine Nachricht" zu schicken. Und: "Ich liebe Dich, Schwesterherz, und werde niemals die Hoffnung aufgeben."

Zumindest zwei Brüche hat es laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung in Elifs Leben gegeben. Demnach hat sie den Umzug von Landsberg, wo sie groß geworden ist, in den Münchner Raum nur schwer verkraftet, sie trauerte der alten Heimat lange nach. Im vergangenen Frühjahr wäre sie nach einer alkoholreichen Party beinahe in der Isar ertrunken, ein Rettungsarzt konnte sie wiederbeleben. Dieses Erlebnis hat sie offenbar in einen religiösen Zusammenhang gestellt, hat von einem "neuen Leben" und einer "neuen Chance" gesprochen.

Durch entsprechende Internetforen wurde Elif radikalisiert, da ist sich ihre Familie sicher. Nicht nur Männer, sondern auch Frauen werden in den vom IS besetzten Gebieten gebraucht: für den Haushalt, als Lehrkräfte – und zum Kinderkriegen. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz sind bisher 650 Menschen aus Deutschland nach Syrien in den Krieg gefahren, darunter 65 Frauen. 

Viele Fragen bleiben offen. Aus "ermittlungstaktischen Gründen" äußert sich die zuständige Staatsanwaltschaft München nicht zu dem Fall. Wer hat Elif radikalisiert? Hatte sie Unterstützer – und wen? Und vor allem aber: Wo ist sie?

Ressort: Deutschland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mi, 18. März 2015: PDF-Version herunterladen

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